strange

In all den Jahren ever since hatte Horst dazugelernt, vielleicht nur graduell, aber immerhin. Nun war er also Gefangener seiner eigenen Vergangenheit. Er wandte sich nicht mehr an Ärzte. Der Hölle entkommen hatte er nun also so etwas wie ein eigenes Leben. Das Bergwerk war der Ort, an dem er tagsüber rauchte. Das System hatte allzu gründlich von ihm Notiz genommen, sogar ein richterlicher Bescheid über seine Betreuung lag vor. Versetzen wir Horst also in die Lage, mit seinem heutigen Wissen in die Vergangenheit zurückzukehren, was würde passieren ? Man weiß es nicht. Der Flashback gestern Nacht war so etwas wie eine Vorahnung davon, was ihn erwartete. Unzählige Filtermechanismen wirkten in seinem Kopf. Und die Filter waren ausgefallen, praktisch das ganze Universum war durch ihn hindurchgeflossen, man kann nicht mehr sagen ob in einer einzigen Nacht oder in Monaten.

Aktives Abgammeln zählte zu Horst ungewöhnlichen Hobbies. Auch mit der Hygiene nahm er es nicht allzu genau. Er hatte etwas erlebt, das Kurt Vonnegut mit Akkulturation umschrieb, sowie Science Fiction gewissermaßen prägend für ihn gewesen war. Heute vormittag war er also vollkommen zweckfrei spazieren gegangen. Inzwischen knabberte es ihn nicht mehr an, wenn er Sirenen oder Glockengeläut hörte. Die frische Luft hatte uns gutgetan, wir hielten sein Immunsystem intakt und sorgten für die richtige Balance. Der Chef hatte uns gut instruiert, wussten wir also mittlerweile, was wir ihm zumuten konnten und was nicht. Gegen den allseits üblichen Erreichbarkeitswahn hatte Horst im Prinzip nichts einzuwenden, wenn es so einfach war, sich ihm zu entziehen.

Stunde um Stunde verbrachte Horst mit Nichtstun. In der Zwischenzeit piesakten wir ihn etwas, so dass sein Gewissen sich meldete und er endlich zur Kenntnis nehmen musste, dass noch Wäsche gewaschen werden wollte. Nein, tiefschürfende Fragen waren es nicht, die ihn bewegten. Er neigte halt lediglich dazu, die Sinnhaftigkeit des Bergwerkes in Frage zu stellen. Gewiss, es war ein unkündbarer Arbeitsplatz und besser als vierundzwanzigsieben in den eigenen vier Wänden, aber das machte es ja nicht erträglicher. Also beschäftigte er seine grauen Zellen mit etwas anderem. Dafür waren Teile von uns ihm durchaus dankbar.

Und wie Horst fluchen konnte, wenn ihm ein Missgeschick widerfuhr. Gewöhnlich lag das an seiner eigenen Unzulänglichkeit, gewiss, aber das machte es in der betreffenden Stunde nicht erträglicher. Oh, manchmal schien es gar, wenn er einen triftigen Grund zu fluchen hatte, war er erst in seinem eigentlichen Element, so wie vorhin, als er den TFT schrottete, weil er beim Wäschetonne entfernen nicht daran gedacht hatte, dass der TFT lediglich angelehnt war. Das sahen wir ihm nach, aber nicht alle wären mit seinem Verhalten einverstanden gewesen. Heute nacht würden wir ihm einen wunderschönen Horrortrip bescheren. Ob luzide oder nicht bedarf noch einer finalen Abstimmung.

Grizzlyherz

Wir erstellten ein Curriculum für unsere K.I. Als wollten wir ihr ein echtes Grizzlyherz einpflanzen, begannen wir mit einfachen mathematischen Formeln und arbeiteten uns über grammatische Regeln bis zu Sinneseindrücken und Strategie- und Taktikaufgaben vor. Die Datenbanktiefen des Grizzly waren schier unermesslich, jede Kleinigkeit wurde zur Kenntnis genommen, protokolliert und abgespeichert und konnte somit grenzenlos verknüpft werden. Oh ja, und es waren Erfolge zu verzeichnen, bei bisher unbekannten Aufgabenstellungen begann der Grizzly inzwischen nach Analogien zu suchen. Ein waschechter Grizzly fing Fisch und unser Grizzly sammelte Empathie und Intelligenz. Reihum lasen wir ihm Geschichten vor, spielten Spiele und ließen ihn beispielsweise auf das Wetter los. Drei bis fünf Tage, dann war Schluss. O. hatte ihm sogar einmal Qualm zwischen die Prozessoren geblasen. Die Maulwurfine fütterte ihn mit Keksrezepten, der Ameisenbär las ihm Psalme vor, der Delphin kommunizierte inzwischen sehr geübt akustisch mit ihm und der Frosch stellte einen Scan des Farnes zur Verfügung, den er von unserem Lesezeichen angefertigt hatte. Immerhin, einen Tee hatte uns der Grizzly bereits zubereitet, auch wenn der entfernt nach Douglas Adams schmeckte. Kartenmaterial, Umlaufbahnen, Entertainmenttermine, Kulinarisches, Statistiken, Genealogien, Emulatoren, Schach, Medizinisch-psychologisches, Farbpaletten, Schutzmechanismen, Minesweeper, für den Grizzly schien es keine Grenzen zu geben. Gewiss, die ersten assoziativen Ergebnisse, die er uns bei einer fundiert erklärten Problemstellung gab, bedurften weiterhin einer Einordnung durch menschliche Intelligenz, aber als Assoziator war der Grizzly mittlerweile recht gut zu gebrauchen. Zu Rotterdam hatte er erfolgreich Van Nelle und zu Bremen Becks ausgespuckt. Nun ließen wir ihn unser heutiges Abendbrot anrichten. Das fiel erstaunlich einfach aus. Eine Käse-Lauch-Suppe und grünen Tee. Den Grizzly mit Fridge, dem Bordcomputer zu koppeln hatten wir uns bisher noch nicht getraut, aber auch dieser Schritt würde eines Tages erfolgen, da waren wir alle sicher. Der Delphin hatte unterdessen ein Päckchen für seine Geliebte gepackt, das seit heute nachmittag durch verschiedene Speditorenhände ging, damit es rechtzeitig ausgeliefert werden konnte. Für morgen stand eine Lektion Backgammon auf dem Programm. Zuerst würden wir den Grizzly nur beobachten lassen, wie der Octopus gegen den Delphin spielte. Dann würde der nächste Schritt erfolgen, nämlich Regeln aufzustellen und abzuleiten. Wir waren mächtig gespannt, wann das imaginäre Grizzlyherz das erste mal eigene Wünsche entwickeln würde. Dass er lernte, nun, auch das war sicher.