sei’ s eingeschärft – Stimmenrausch 2014-12-04

John Brown, 155ster Todestag; Kevin Coyne, 10ter Todestag; Marinetti, vor 70 Jahren verstrahlt (2. Dezember)

ZEIT: Fühlen Sie sich an den Rand gedrängt?
Strauss: Wo anders soll man leben?

In der ästhetischen Entwicklung spielen Neuerungen keine bedeutende Rolle mehr. Ich selbst bin ein Transporteur, kein Neuerer. Vielleicht ist heute der Transporteur der Neuerer, das kann schon sein. Ich habe mich immer als einen empfunden, der durchdrungen ist von dem, was war, und es weiterträgt.

Ich versuche hin und wieder, verdeckte Quellen zu öffnen, die nicht den allgemeinen Literatur-Mustern entsprechen. Ich möchte beglaubigen, dass man aus vielen Stimmen heraus lebt. Das ist eine Frage der persönlichen Vorlieben und der Resonanz.

aus: ZEIT-Gespräch mit Botho Strauß (70) von Ulrich Greiner in Nr. 07/2003

So sehr wir auch durchtränkt sind von einer unnützen, lächerlichen und abergläubischen Ehrfurcht für unsere unsinnigen gesellschaftlichen Gebräuche, wird es doch vorkommen, daß Leute, die entweder grundsätzlich oder aus Neigung oder aus Temperament lasterhaft sind, glauben, daß es besser ist, sich dem Laster hinzugeben, als sich ihm zu widersetzen: Denn wie oft sehen sie nicht, daß Bösewichte für ihre Missetaten nur süßen Lohn ernten?

Marquis de Sade, zum 200sten Todestag; aus der Einleitung zu “Die Geschichte der Justine oder Die Nachteile der Tugend” (1791)
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aber mit schmackes – Stimmenrausch 2014-12-02

Winston Churchill (140); Hans Krása, zum 115ten; Reinhold Ewald, 40ster Todestag, Ulrich Wildgruber, 15ter Todestag (30. November)
Karl Schmidt-Rottluff, zum 130sten; John Densmore, zum 70sten; Charly Körbel, zum 60sten; Abraham a Sancta Clara, 305ter Todestag; Alvin Ailey, 5ter Todestag (1. Dezember)

“Ich habe nie mehr sein wollen, als ein einfacher Soldat der großen Befreiungsarmee; ich habe in Reih und Glied gekämpft und meine Schuldigkeit getan, und die Namen der einfachen Soldaten werden bekanntlich nur in den Verlustlisten genannt.”

Rudolf Lavant, zum 160sten; z.n.w.

Wird es möglich sein, die Literatur vor der Sprache zu retten? Die Frage erscheint auf den ersten Blick absurd, nicht wahr? Doch sie pocht an unsere Tür. Das neue Jahrtausend und die Epoche des Wassermanns beginnen zweifellos im Zeichen des Ikonischen. Die moderne Kommunikation kürzt über das Zeichen die Wege ab, die die Sprache über Jahrtausende geebnet hat. Die Linearität des geschriebenen und gedruckten Worts ist nicht länger gefragt. Der Mensch wird gewahr, daß sich die geschriebene Sprache durch ihre Linearität von seinen Gedanken und Träumen unterscheidet, die nicht linear sind, die, in ständiger Bewegung begriffen, nach allen Seiten hin ausschlagen und sich verzweigen.

Milorad Pavic, zum 5ten Todestag, aus einem Essay in Die Zeit vom 22. April 1999, übertragen aus dem Serbischen von Bärbel Schulte
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für die nachwelt – Stimmenrausch 2014-11-30 #2

Gato Barbieri, zum 80(?)sten; Victor Ostrovsky, zum 65sten; Ernest Kaltenegger, zum 65sten; Cesare Beccaria, 220ster Todestag; Washington Irving, 155ster Todestag (28. November)

“I believe in a lively disrespect for most forms of authority.”

“Language exerts hidden power, like the moon on the tides.”

Rita Mae Brown, zum 70sten; common

Der Mond und der Schnee.
Ich lebe und betrachte das Schöne.
Das Jahr geht zu Ende.

Haiku-Interpretation von Nino Barbieri, z.n.w.

“So bin ich letztendlich nur diesem einen Pfad des Dichtens gefolgt, unbegabt, wie ich bin und ohne besondere Fertigkeit.” (1691)

zitiert nach Udo Wenzel

Matsuo Basho, zum 320sten Todestag

“Bin zwar von Beruf Schriftsteller – aber meine Existenz ist Mensch, Zeitgenosse, Zeuge, Zweifler, Glaubender, Verzweifelnder, Mitmacher, Weigerer, Liebender, Geliebt-werden-Möchtender, Hassender, Schaffender, Ehrgeiziger, guter Mensch, böser Mensch.”

Walter Matthias Diggelmann, zum 35sten Todestag; im Filmschauspiel “Die Selbstzerstörung des Walter M. Diggelmann” von Reni Mertens und Walter Marti (1972)

“Eure Pflicht wäre es gewesen, in allem die Weisheit einer Gesetzmäßigkeit zu sehen und an die Schönheit der Dinge zu glauben. Euch aber dürstete nach dem falschen Ehrgeiz einer großen, dekadenten Geste. Ihr wolltet nicht Lust, sondern Kitzel, nicht die Ruhe einer Arbeit, sondern die Überwindung einer Langeweile. Darum mißbrauchtet Ihr die einfachsten Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Tier.”

“Das Eigentum seiner Seele ist der Krieg, der ewige Krieg, der Machtanspruch, die Gewißheit, etwas Besseres zu sein als alles andere Geschaffene und Gewordene. Alleinherrschaft, das ist sein Ziel, und er zertritt alles Lebendige, das nicht seine Gestalt hat. Er ist berufen, die große Zerstörung vorzubereiten.”

Hans Henny Jahnn, zum 55sten Todestag; zitiert nach Ulrich Greiner
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…setzt es was – Stimmenrausch 2014-11-30

Peter Pan, zum 105ten; Peter Lilienthal, zum 85sten; Achim Strietzel, 25ster Todestag; Ruth Niehaus, 20ster Todestag (27. November)

Wann uns die Schöne nicht zu freundlich angesehn,
So wünschen wir nicht mehr, vor Kummer, zu erkalten,
Noch vor der Zeit ins Grab zu gehn.
Man pflegt von Selbst-Mord ietzt nichts mehr zu halten.
Was sonst aus Liebes-Trieb die Menschen weggerafft,
Gifft, Raserey und Dolch, ist alles abgeschafft.
Dergleichen Grausamkeit
Wird selten von uns angeführet,
Und zwar nur bey Gelegenheit,
Weil sie noch manchen Reim in unsern Liedern zieret.
Aus dem Frantzözischen.

Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz, zum 360sten; aus: “Regeln ohne Verdruß zu lieben”;
in: Des Freyherrn von Canitz Gedichte, mehrentheils aus seinen eigenhändigen Schriften verbessert und vermehret, Leipzig und Berlin 1727.

“Armes Menschengeschlecht! aus welchen Abgründen hast du dich noch emporzuarbeiten!”

Georg Adam Forster, zum 260sten; z.n.w.

Und ich war hungrig und war ausgestoßen.
Wohin ich kam, verstummte das Gespräch.
Von wo ich ging, klang auf ein leises Zischen.
Ich lief von Mensch zu Mensch und schrie: “Warum?”

Klara Blum, zum 110ten; hier zitiert nach Svenja Hoffmann
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schockgefrostet im kältesprech – Stimmenrausch 2014-11-27

Ba Jin, zum 110ten; Paul Desmond, zum 90sten; Herrmann Zschoche, zum 80sten; Maarten ‘t Hart, zum 70sten; Herbert Junck, zum 65sten; Mark Lanegan, zum 50sten; Mathilde Franziska Anneke, 130ster Todestag; Nick Drake, 40ster Todestag (25. November)
Cuno Fischer, zum 100sten; Slavko Avsenik (?!), zum 85sten; Tina Turner, zum 75sten (26. November)

Schau’ umher ich tiefbekümmert,
Alles wird zur Elegie;
Und im Innersten zertrümmert
Ist der Seele Harmonie;
Klagend in Erinnerungen,
Eine Glocke, die gesprungen!
Wer dem machterfüllten Beben
Ihrer Töne einst gelauscht;
Hört, wie jetzt zerriss’nes Leben
In gebroch’nen Klängen rauscht.

Louise Aston, zum 200sten; aus ihrem Gedicht “An Ihn”, in: Wilde Rosen, 1846

“Das menschliche Gehirn mag so weit auf dem Weg zu seiner destruktiven Spezialisierung sein wie die großen Nasenhörner der letzten der Titanotherien.”

Norbert Wiener, zum 120sten; z.n.w.

“Entweder man hat das Talent, dann braucht man das Studium nicht, oder man hat es nicht, dann nützt der akademische Unterricht auch nichts.”

Paul Klüber, zum 110ten; z.n.w.

“C’est pas par là, c’est par ici”

Eugène Ionesco, zum 105ten; aus seinem Theaterstück “La Cantatrice chauve”, 1950

“Im Leben zählen drei Dinge: Rechtschaffenheit, Talent und eine Chance. Es sind die Frauen, die uns zu Stars machen.”

Henri Vidal, zum 95sten; zitiert nach Todesnachricht in: Die Zeit vom 18.12.1959
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brummkreiselnd – Stimmenrausch 2014-11-26

Julien Offray de La Mettrie, zum 305ten; Günter Gaus, zum 85sten; Erna Wazinski, 70ster Todestag (23. November)
Jerzy Toeplitz, zum 105ten; Yvonne Rainer, zum 80sten (24. November)

“Der Herbst ist der Frühling des Winters.”

Henri de Toulouse-Lautrec, zum 150sten; gemein

Ein Wort

Es gibt ein Wort, das kann unglücklich machen,
Es gibt ein Wort das kann Feuer entfachen.
Auch wenn es fünftausend Jahre nicht finden,
Wer kann den Vulkan, sein Schweigen ergründen?
Möglich, daß von einem Geist erregt,
Plötzlich aus heiterem Himmel ein Donnerschlag schlägt:
“Unser China!”

Wen Yiduo, zum 115ten; Übersetzung von Peter Hoffmann und dem Tübinger Arbeitskreis Chinesische Literatur

“Ich komme aus einem der 24 Länder, das nach 1954 von Amerika mit Bomben beworfen wurde, Serbien. Wenn du sagst “Werft keine Bomben auf unser Land”, dann bist du ein Nationalist. Dieser Film ist mehr als meine politische Einstellung. Es zeigt die gemeinsame Einsicht der Dritte-Welt-Länder.”

Emir Kusturica, zum 60sten; z.n.w.
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auf & ab prall – Stimmenrausch 2014-11-23

Peter Brüning, zum 85sten; Marilyn French, zum 85sten; Rainer Brüninghaus, zum 65sten; Uwe Scholz, 10ter Todestag (21. November)
George Eliot, zum 195sten; Christian Rohlfs, zum 165sten; Henning Ahrens, zum 50sten; Gérard Philipe, 55ster Todestag (22. November)

Sonettendichter

1.
Eins wie das andre! Journal und Almanach, Zeitung und tausend
Uebersetzungen macht nun man auf deutschem Parnaß.
Was ist Apoll geworden? Ein Spekulant, und Fabriken
Legt er sich an, und kaum treibt er’s Papier noch sich auf.
Stets an der Press’! und die Hand, von der Druckerschwärze beschmutzet,
Wäscht er am Sonntag sich rein im kastalischen Quell.
In Italien aber, da schreibt man Sonette zusammen,
Anakreontica und Hendecasyllaben auch.
Tausende liest man vor in den Akademien am Tiber,
Professoren sind es, Monsignori dazu,
Cavalieri, Grafen, Abbati, Barone, Doktoren,
Alle Stände, doch fehlt einzig der Dichter dabei.

2.
Und sie conjugiren: ich liebe, du liebest, er liebet,
Ich bin, du bist, er ist – nichts als ein schlechter Poet.

Wilhelm Friedrich Waiblinger, zum 320sten; in: Gedichte aus Italien, Band 2: Oden und Elegien aus Rom, Neapel und Sicilien, Leipzig 1893/1895

“Zum Hasse, zum höhnischen Lachen bringt uns die Sprache durch die ihr innewohnende Frechheit. Sie hat uns frech verraten; jetzt kennen wir sie. Und in den lichten Augenblicken dieser furchtbaren Einsicht toben wir gegen die Sprache wie gegen den nächsten Menschen, der uns um unseren Glauben, um unsere Liebe, um unsere Hoffnung betrogen hat.”

Fritz Mauthner, zum 165sten, z.n.w.

L’athéisme seul peut pacifier le monde aujourd’hui.

André Gide, zum 145sten; aus: Journal 1939-1949

dem wahren jakob

nichts ist konkreter als das konkrete
& nichts ist abstrakter als der begriff…
der ein bündel bedrucktes einmal zum
kultobjekt ein anderes mal zum fetisch
und dann wieder zum papierballast mit
noch zu ermittelndem brennwert erhebt
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wiederholter anflug – Stimmenrausch 2014-11-22

Girolamo de Rada, zum 200sten; James Ensor, 65ster Todestag (19. November)
Angelika Hoerle, zum 115ten; Marianne Breslauer, zum 95sten; Copi, zum 75sten; Kurt Krömer, zum 40sten (!);
Laura Carola Mazirel, 40ster Todestag (20. November)

“Ich habe angefangen, ein bisschen vergnügt zu sein, da man mir sagte, das sei gut für die Gesundheit.”

Voltaire, zum 320sten; z.n.w.

heute!
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gestolperter engel – Stimmenrausch 2014-11-19

“Sehr überzeugend erscheint mir, daß alles mit dem Wort begann. Ohne Wort hätten wir nicht Gott. Das heißt nicht, daß wir ihn mit dem Wort haben. Durch Benennen suggerieren wir, etwas begreifen zu können, und Begreifen suggeriert, es festhalten zu können. Aber nichts können wir festhalten, soviel wir uns auch einbilden, begreifen zu können. Wer mit Wörtern und Worten umgeht (nicht handelt), also Verantwortung übernimmt, hat Skrupel, auf eine Frage einzugehen, die fühlbar zu groß ist für den reflektierenden Verstand. Für Alles haben wir keine Wörter und kein Wissen. Ich wundere mich immer sehr, wenn ich Gleichungen aufstellen höre wie: Gott ist Ursache und hundert andere mehr. Wie wenn der, der das sagt, wisse, was sei, und sich als Wirkung gleichsam überhebt über das, worüber er spricht. Solchen rhetorischen Spielen fehlt Demut, ohne die man nicht für einen Wimpernschlag ahnen kann, wie unermeßlich unbegreiflich klein wir sind. Es scheint, daß selbst Gläubige glauben, wissen zu können, ohne glauben zu müssen.”

Christoph Wilhelm Aigner, zum 60sten; zit. n. wiki.

wir sind wir

okay, du bist alt…
aber wir wollen
thrill, speed, fun…
ist der neue beat
der weltmeister
heißt mitmachen
oder verlierer sein
solidarisier dich
mit der mutter
aller spiele krieg
ist zeitgewinn
weitermachen
guck nicht hin

heute!
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nach starkem abgang – Stimmenrausch 2014-11-18

Johann Erich Biester, zum 265sten; Friedrich Vordemberge-Gildewart, zum 115ten; Christa Johannsen, zum 100sten; Jakob Böhme, 390ster Todestag; Ursula Herking, 40ster Todestag (17. November)

Ein Mythos. Der Mythos von der frühreifen Jugend. Das verzerrte Versprechen des genialen Kindes. Man sagt von solch frühreifem Kind, das vorzeitig stirbt: “Es konnte nicht am Leben bleiben, sehen Sie, es war viel zu intelligent.”
Rimbaud stirbt an Jahrhunderten der Barbarei. Victor stirbt ganz einfach an seinem neunten Geburtstag. Ganz dumm – kleinbürgerlich -, aber doch genau in dem Augenblick, da sich ihm zum ersten Male das Leben offenbart, das Leben, wie es ist. Mit seinen Erinnerungen, seinen Versprechen, seinen Verwicklungen, seinen Vergänglichkeiten. Um genau zu sein, es gibt nichts Vergänglicheres als einen Geburtstag.

Victor ist vielleicht ein peinliches Werk. Und ich weiß sehr wohl, daß Verlegenheit der Feind des Vergnügens ist. Aber wer hindert das Publikum, sich sein Vergnügen auf Kosten des Autors zu holen?

Roger Vitrac, zum 115ten; Auszug aus einem Artikel in Le Figaro am 11. November 1946, übersetzt von Susanne Lüpertz; hier erstmals digitalisiert

“Ich sterbe. Du stirbst. Er stirbt.
Viel schlimmer ist, wenn ein volles Faß verdirbt.”

Joachim Ringelnatz, 80ster Todestag; z.n.w.
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